07.08.2025
Statement zum IFM-Ausschluss von Hashomer Hatzair und NOAL
Liebe Genoss*innen,
einige von euch haben es schon erfahren: auf dem IFM Congress vom 18.07 bis 20.07.2025 in Döbriach wurden unsere Partnerorganisationen, die Hashomer Hatzair und die Hanoar Haoved Vehalomed (NOAL) aus der IFM-SEI ausgeschlossen. Wir sind enttäuscht und wütend über diese Entscheidung. Der Ausschluss der Hashomer Hatzair und der NOAL, welcher auf Antrag der IYU, einer unserer aus Palästina stammenden Partnerorganisationen geschah, stellt in unseren Augen eine schwere Zäsur in der Friedenskooperation dar, welche wir zu verhindern suchten und doch nicht abwenden konnten.
Wir erläutern in dieser Stellungnahme unser Handeln und unsere politische Einschätzungen. Wir möchten auch Einblicke geben, wo wir rückblickend unsere Handlungsspielräume sehen und vor welchen Fragen wir nun stehen. Unser Anliegen ist es, euch eine Übersicht zu verschaffen. Dies hätten wir spätestens auf dem Bundesausschuss Ende September in jedem Fall getan, um eine gut vorbereitete verbandliche Debatte zu führen. Das Statement einiger ehemaliger Funktionär*innen (Altfalken) und darauf aufbauende veröffentlichte Zeitungsartikel enthalten aus unserer Sicht mehrere gravierende Verkürzungen. Besonders irritiert uns dabei, dass unser Gesprächsangebot im Vorfeld der Veröffentlichung des Statements von den Verfasser*innen abgelehnt wurde. Die dort getroffene Gleichsetzung unseres politischen Abwägens mit stiller Zustimmung zu Antisemitismus weisen wir mit aller Entschiedenheit zurück. Es handelt sich um eine komplexe und schmerzhafte Situation, in der sich politische Frontlinien innerhalb unseres Verbandes nicht einfach ziehen lassen. Mit dieser Stellungnahme ist der Prozess für uns nicht abgeschlossen. Wenn ihr beim Entwickeln eurer eigenen Perspektiven gern noch Einschätzungen von uns haben möchtet, sagt gern Bescheid und wir kommen zu euch. Wir möchten gern eine aktive Debatte im Verband zu diesem Thema, welches viele von uns sehr beschäftigt, führen.
Ausschlussantrag der IYU gegen Hashomer Hatzair und NOAL
Beim International Committee der IFM im April 2024 stellte die IYU einen Antrag auf Ausschluss von Hashomer Hatzair und NOAL aus der IFM-SEI. Sie wirft ihnen vor, sich aktiv am Krieg in Gaza und der Westbank zu beteiligen und damit mit den friedenspolitischen Werten der IFM-SEI zu brechen.
Dieser Vorwurf stimmt in dem Sinne, dass die Mitglieder beider Organisationen als wehrpflichtige Bürger*innen Israels am Krieg beteiligt sind. Übersehen wird dabei jedoch, in welcher komplexen innenpolitischen Situation die mehrere tausend Mitglieder starken Organisationen handeln. Diese Komplexität und Widersprüchlichkeit ist unseren israelischen Genoss*innen bewusst, das betonten sie auch bei den im Winter letzten Jahres von uns organisierten Austauschformaten. Friedensaktivistin zu sein und zugleich ins Militär, welches aktiv einen Krieg führt, eingezogen zu werden, ist ein Widerspruch, welchen sie bearbeiten. In der Hashomer Hatzair und der NOAL wird inzwischen die Frage aufgeworfen, ob die Beteiligung am Krieg noch zu rechtfertigen sei.[1] Auch sind wir mit beiden Organisationen im kritischen, aber ihrerseits auch selbstkritischen, Austausch zum Militärdienst und Krieg in Gaza.
Wir denken: in der aktuellen Situation ist die israelische Regierung ein Akteur, bei welchem sich viel Macht konzentriert. Die Entscheidungsmacht, wie dieser Krieg geführt wird, aber auch die Macht, ihn zu beenden. Auf palästinensischer Seite gibt es keinen Staat, der militärisch hochrüsten könnte, keine Wirtschaft, die eine offene Kriegsführung tragen könnte. Daher sind es Terrorgruppen wie die Hamas, die die Akteure auf der Gegenseite sind, auf der eine Zivilbevölkerung keine Chance hat, eine eigene Friedensperspektive und –strategie zu entwickeln und umzusetzen.
Der innerisraelischen Opposition und der internationalen Staatengemeinschaft kommt somit eine große Aufgabe zu: einer rechtsradikalen Regierung Einhalt zu gebieten, welche das Risiko eines Genozids an der Bevölkerung des Gazastreifens in Kauf nimmt. So haben wir auch auf unserer Bundeskonferenz Ende Mai diskutiert.
Welche Rolle können wir als Bildungsverband spielen? Und welche nicht?
Hashomer Hatzair und NOAL berichten uns von einer Stimmung in Israel, in der es lange kaum möglich war, offen gegen den Krieg zu sein. Sie tragen die Kampagne, welche die Freilassung der Geiseln des 7. Oktobers und damit einen sofortigen Waffenstillstand fordert, aktiv mit. Wir denken, sie können innerhalb der israelischen Gesellschaft diese kritische Stimme sein, welche es nun so dringend braucht. Als Bildungsverband sehen wir es als unsere Aufgabe, Räume zu schaffen, in denen friedenspolitische Perspektiven entwickelt und der Austausch über Grenzen hinweg möglich ist. Wir denken, dies sollte auch die Aufgabe der IFM-SEI sein. Deswegen fuhr unsere Delegation mit einer klaren Haltung auf den Congress Mitte letzten Monats: wir waren und sind gegen den Ausschluss der beiden Organisationen.
Ablauf IFM-SEI Congress
Im Vorfeld des Congress wurde in der IFM-SEI ein adhoc Komitee eingesetzt, welches den Ausschluss prüfen sollten. Wir unterstützten bei der Findung und Berufung dieses Komitees. Auf dem Congress hielt das Komitee seinen Bericht, der sich für einen Verbleib der Organisationen in der IFM aussprach und für eine Suspension unter bestimmten Voraussetzungen plädierte[2]. Das adhoc committee hatte die Aufgabe, NOAL und Hashomer Hatzair in diesem membership review zu interviewen, leider gab es von ihrer Seite aus keine Rückmeldung an das committee.
Nach unserer Bundeskonferenz und vor dem Congress der IFM haben wir unseren Genoss*innen von NOAL und Hashomer mehrfach Gesprächsangebote gemacht, um gemeinsam über den Congress zu sprechen. Wir wollten mit unseren Partner*innen besprechen, was ihre Haltung zum Ausschlussverfahren ist. Alle Versuche haben keine Antwort erhalten, sodass wir auf dem Congress selbst nicht genau wussten, was NOAL und Hashomer von uns erwarten. Wir konnten nur mutmaßen, wie sie zum Ausschlussverfahren und zur IFM-SEI stehen. Rückblickend wissen wir nun: es ist eine Sache, dass sie nicht aktiv für ihren eigenen Verbleib in der IFM werben wollten[3] und eine andere, dass sie nun getroffen und enttäuscht über diesen Ausschluss sind. Die akute Kriegssituation, in welcher sie sich befinden, und das Ausseinandersetzen mit dem gesellschaftlich zunehmenden Antisemitismus bedingt wohl auch, dass Abläufe in der IFM nicht ihre Priorität sind und außerdem, auch das ist Teil der Wahrheit, ist sicherlich die Enttäuschung, in diesen Zeiten keine Solidarität zu erfahren, groß.
Auf dem Congress waren wir mit fünf Delegierten anwesend. Wir haben mit einigen unserer internationalen Partner*innen Gespräche über das Ausschlussverfahren am Rande des Congress‘ geführt, mit dem Ziel, sie davon zu überzeugen, gegen den Ausschluss zu stimmen. Alle angesprochenen Organisationen waren sich darin einig, dass sie sich nicht gegen den Ausschluss stellen wollten und appellierten an uns, teilweise mit großem moralisierenden und politischen Druck, dass wir dies auch nicht tun sollten. Mindestens alle drei palästinensischen Organisationen in der IFM drohten mit einer Rücktrittserklärung, sollten Hashomer Hatzair und NOAL nicht ausgeschlossen werden.
Die IYU hat uns Einseitigkeit in unserer Solidarität vorgeworfen. Dieser Vorwurf trifft uns, auch da er im Widerspruch zu unseren praktischen Handlungen steht. So haben wir z.B. die Teilnahme ihrer Delegierten am IFM Congress finanziell ermöglicht, hatten sie auf unserer letzten Bundeskonferenz zu Gast und organisierten ein Onlineformat, in dem sie dem Verband ihre Perspektive auf den Konflikt darlegen konnten. Die IYU kündigte uns des Weiteren an, dass sie uns die Partnerschaft kündigen würden, sollten wir gegen den Ausschluss der NOAL und der Hashomer Hatzair stimmen.
Wir eröffneten die Diskussion mit einem Redebeitrag, in dem wir vermittelten, dass wir sowohl mit Hashomer Hatzair, Noal, aber auch der IYU zusammenarbeiten und die Partnerschaft schätzen, weshalb wir keine Rolle in dem Ausschluss unserer engsten Partner*innen spielen wollen. Weder Hashomer Hatzair noch NOAL waren selbst anwesend, um zur Sache zu sprechen. Es war eindeutig, dass der Ausschluss zu diesem Zeitpunkt nicht mehr abzuwenden war, und so verzichteten wir darauf, eine symbolische Gegenstimme abzugeben. Wir verließen für die Abstimmung den Raum, um das erreichen der notwendigen 2/3 Mehrheit zumindest zu erschweren.[4].
Die Abstimmung ergab von allen abgegebenen Stimmen eine 100% Zustimmung zum Ausschluss der NOAL und eine 90% Zustimmung zum Ausschluss der Hashomer Hatzair. Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, wer gegen den Ausschluss der Hashomer Hatzair gestimmt bzw. sich enthalten hat.
Vergangene Handlungsoptionen
Zum jetzigen Zeitpunkt sehen wir zwei Handlungsoptionen, mit denen wir einen anderen Weg hätten gehen können:
- Im alten Bundesvorstand hätten wir die anderen Mitgliedsorganisationen mit mehr Vorlauf kontaktieren können, um zu versuchen, sie davon zu überzeugen, sich gegen den Ausschluss auszusprechen. Die kurzfriste Ansprache durch den neuen Bundesvorstand vor dem Congress war leider nicht erfolgreich. Wir mussten abwägen, ob wir aktiv in die Entscheidungsprozesse des Congresses eingreifen oder Politik mit unserem eigenen Gewicht in der Organisation machen wollen. Wir entschieden uns bewusst dagegen, andere Mitgliedsorganisationen unter Druck zu setzen, wie es einige mit dem angedrohten Austritt getan haben, weil wir ein solches Vorgehen für politisch falsch halten.
- Wir hätten aktiv gegen den Ausschluss stimmen können. Das hätte das Ergebnis zwar nicht verändert, aber unsere solidarische Haltung gegenüber der Hashomer Hatzair und der NOAL klarer sichtbar gemacht. Aus den bereits dargelegten Gründen entschieden wir uns in diesem Moment jedoch dafür, den Raum zu verlassen und unser Statement vorzulesen. Wir gewichteteten die Möglichkeit des Fortbestehens der Partnerschaft mit unserer palästinensischen Organisation, und damit für mögliche Begegnungsräume innerhalb unseres Verbandes und dem WBC und wollten zu diesem Zeitpunkt nicht selbst den endgültigen Bruch einer jahrzehntelang aufgebauten Friedensarbeit herbeiführen.
Fazit und Ausblick
Wir stehen weiterhin solidarisch mit Hashomer Hatzair und NOAL. Wir wollen weiterhin mit ihnen zusammenarbeiten.
Insgesamt sind wir der Ansicht, die IFM-SEI hat mit dieser Entscheidung einen schweren Fehler begangen. Den Organisationen war es wichtiger, eine Haltung zu bekunden, als tatsächliche Praxis, nämlich Cross-Border-Arbeit auch in der IFM zu schützen und zu ermöglichen. Wir glauben auch, dass wir in unserer internationalen Arbeit Widersprüche aushalten müssen und wir bei jeglicher Kritik an unseren Partner*innen für unsere sozialistische Internationale mit ihnen in Debatte und Kritik bleiben müssen und keine Verweigerung unserer pädagogischen Grundsätze akzeptieren können.
Wir werden uns weiter dafür einsetzen, den von der NOAL auf dem International Committee im Herbst 2023 gestellten Antisemitismus-Antrag in der IFM umzusetzen, auch um den Doppelstandard, der hier an die israelischen Organisationen angelegt wurde, auf den Tisch zu bringen.
Für uns stellt dieser Ausschluss keinesfalls die bilateralen Partnerschaften zwischen der SJD und Hashomer Hatzair und NOAL infrage, und wir werden, wie auch schon in den vergangenen Jahren, weiter darauf hinarbeiten, die nach Corona und dem aktuellen Krieg geschwächten Partnerschaften zwischen unseren Gliederungen und denen von Hashomer Hatzair und NOAL zu stärken.
Unsere Strategie bezüglich der Friedenskooperation im WBC möchten wir gern anhand eines Antrags, den wir auf dem Bundesausschuss vorlegen werden, mit euch diskutieren.
Freundschaft!
[1] Siehe z. B.: https://archive.is/20250713212753/https://www.haaretz.com/israel-news/2025-07-12/ty-article-magazine/.premium/israeli-youth-movements-are-silent-on-the-atrocities-in-gaza-but-dissent-is-brewing/00000197-ea7c-d0a0-a1df-eefdfdb40000
[2]siehe PDF unten
[3] Auch auf die Anfragen des adhoc Komitees antworteten NOAL und Hashomer Hatzair nicht.
[4]Vor jeder Abstimmung in der IFM-SEI gibt es einen sogenannten Roll Call, wo alle anwesenden Stimmen gezählt werden, und diese das Quorum ausmachen. Vor der Abstimmung zum Ausschluss waren wir anwesend beim Roll Call, also haben unsere fünf Stimmen in das Quorum rein gezählt. Wir haben bei der Abstimmung den Raum verlassen und keine unserer fünf Stimmen abgegeben. Da wir aber Teil der Gesamtsumme waren, von der es eine 2/3 Mehrheit benötigte, erschwerten wir zumindest mit unserer Nichtabgabe das Erreichen einer 2/3 Mehrheit.
Report of the Ad Hoc Committee on the assessment of the two member organisations NOAL and Hashomer Hatzair from Israel (PDF)