15.01.2021
Präventionsarbeit gegen Gewalt stärken, nicht abwerten!
Offener Brief des Bundesverbandes der SJD - Die Falken und der SJD - Die Falken Landesverband Hessen an die Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e.V.
Die Prävention von Gewalt gegen junge Menschen und die Kindeswohlgefährdung insgesamt stellt für uns als Kinder- und Jugendverband eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen dar. Das Ziel einer demokratischen Gesellschaft muss es sein, ein gewaltfreies Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen. Gerade die Präventionsarbeit gegenüber sexualisierter Gewalt steht hierbei vor besonderen Herausforderungen. Aufgrund der gesellschaftlichen Verfasstheit von Sexualität und Geschlecht, sowie der Machtstrukturen, in welche diese eingebettet sind, wird sexualisierte Gewalt häufig bagatellisiert, ignoriert und tabuisiert. Der öffentliche Diskurs spiegelt deshalb weder eine adäquate Aufarbeitung der zugrundeliegenden Probleme noch eine Kultur der Achtsamkeit als adäquaten Schutz des Kindeswohls wider.
Wir haben daher mit großem Unverständnis den Zwischenruf der Mitgliederversammlung der Kinderschutz-Zentren vom 25. November 2020 sowie die entsprechende Veröffentlichung auf dem Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe zur Kenntnis genommen, in der hinsichtlich der Aufmerksamkeit der Politik und Öffentlichkeit für das Thema Kindeswohlgefährdung eine zu starke Fokussierung auf den Bereich der sexualisierten Gewalt gemahnt wird. In der Arbeit unseres Verbandes ist es ein großer Gewinn, dass unsere lokalen Gliederungen auf die fachlich fundierte und engagierte Beratung, sowie den Austausch mit Kinderschutzzentren zurückgreifen können. Vor diesem Hintergrund erschreckt uns der Zwischenruf in seiner Form als politische Stellungnahme aus mehreren Gründen:
1. Es erscheint uns als sehr fragwürdig, dass die aktuelle Debatte und nicht nur die Steigerung des öffentlichen Interesses für die Relevanz von Kinderschutzthemen positiv gewürdigt werden. Nach unserem Verständnis wird der Bedeutung des Kindesschutzes sowohl für individuelle Lebenswege, als auch für die Gesellschaft insgesamt, nicht die Aufmerksamkeit zu Teil, die ihr gebührt. Kindesschutz kann kaum an einer Diskussion gemessen werden, sondern vor allem an wirksamen Konzepten, Strukturen und schlussendlich einer Kultur der Prävention. Insofern kann auch die Debatte nur daran gemessen werden, was praktisch aus ihr folgt.
2. Der Kern unserer Kritik richtet sich dagegen, ein Konkurrenzverhältnis zwischen unterschiedlichen Formen der Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen zu eröffnen. Durch diesen Vergleich wird sexualisierte Gewalt relativiert, dem wir uns vehement entgegenstellen. Zweifellos ist es notwendig, verschiedene Formen von Gewalt angemessen zu beachten und in entsprechende Präventionspraxen zu überführen. Gleichzeitig kann und darf das nicht dazu führen, dass Gewaltformen und damit auch Gewalterfahrungen gegeneinander ausgespielt werden. Der Grundsatz muss sein, dass Kindeswohlgefährdung und Gewalt gegen Kinder in allen Formen abzulehnen und zu bekämpfen sind.
3. Uns ist bewusst, dass ein Zwischenruf in seinem Format begrenzt ist. Dennoch sind wird aus der praktischen Beratung einen wesentlich höheren fachlichen Standard von den Kinderschutzzentren gewöhnt, als er sich hier andeutet. Es wird richtigerweise darauf hingewiesen, dass von Gewalt betroffene Kinder häufig mehreren Gefährdungslagen ausgesetzt sind. Gleichzeitig wird dabei missachtet, dass bei der Bearbeitung spezifischer Formen von Gewalt sachgemäß auch die anderen Gefährdungssituationen Beachtung finden müssen. Der Bezug auf reine Fallzahlen ohne die Begleitung durch eine Studie lässt keinen Rückschluss auf die Dimensionen der unterschiedlichen Formen von Gewalt in den einzelnen Fällen zu. Hier stellt sich die Frage, wie genau sich bei einer solchen Erhebung die einzelnen Formen von Gewalt überhaupt trennscharf voneinander abgrenzen lassen.
4. Darüber hinaus richtet sich der letzte Absatz neben der Jugendhilfe auch an Politik, Presse, Gesundheitswesen und Justiz. Das missachtet die Bedeutung der Gliederung von Gesellschaft. Es stellt sich die Frage nach dem konkreten Anspruch an die angesprochenen Sphären: Mit der Forderung der Mitgliederversammlung der Kinderschutz-Zentren, die Justiz solle ihren Fokus mehr auf andere Formen von Gewalt richten, wird impliziert, dass die Justiz sich zu sehr auf Fälle sexualisierter Gewalt konzentriert. Diese Aussage kann kaum intendiert gewesen sein. Ungeachtet des Umstandes, dass im Sinne der Gewaltenteilung, in dieser Frage die Legislative und nicht die Judikative anzusprechen wäre. An welcher Stelle legt das Gesundheitswesen einen falschen Fokus auf sexualisierte Gewalt? Werden Betroffene von Gewalt falsch oder zu wenig behandelt? Wie soll die Presse ihre Berichterstattung ändern? Wird ernsthaft unterstellt, dass zu viel über "sexuellen Missbrauch" berichtet wird?
5. Gleichzeitig fragen wir uns, in welches Verständnis von Gesellschaft die Forderung nach einer Diskursverschiebung hin zu anderen Formen der Gewalt eingeordnet wird. Vor dem Hintergrund einer langen Tradition der Tabuisierung sexualisierter Gewalt, scheint es zumindest ein geschichtsloses Verständnis zu sein. Als emanzipatorischer Jugendverband ist das für uns nicht nachvollziehbar und hinnehmbar. Unser Anspruch ist es, solche historischen Zusammenhänge sichtbar zu machen, um auf effektive Weise präventiv zu handeln und die gegenwärtige Gesellschaft zu gestalten, indem Machtstrukturen als Grundlage für verschiedene Formen von Gewalt in Frage gestellt werden.
6. Der Zwischenruf spart konkrete Ziele konsequent aus. Es wird lediglich formuliert, dass sich anders mit den Gefährdungslagen von Kindern auseinandergesetzt werden soll. Dies soll allerdings unter dem Credo geschehen, dass andere Formen von Gewalt als die sexualisierte Gewalt bearbeitet werden sollen. Wie das geschehen soll und was das bedeutet wird nicht benannt. Auch wird nicht auf die Notwendigkeit eingegangen, sich mit den Spezifika der Gefährdungslagen von Kindern auseinanderzusetzen. Wer sich die Aufforderung des Zwischenrufes zu Herzen nimmt, wird es schwer haben, sich darüber klar zu werden, wogegen überhaupt Prävention betrieben werden soll.
Eine Forderung beispielsweise, dass in institutionellen Schutzkonzepten auf der Basis einer Präventionskultur Spezifika unterschiedlicher Gewaltformen Beachtung finden sollten, wäre dem fachlichem Anspruch sowie der fachpolitischen Position gerecht geworden. Dies könnte sich an öffentliche freie Träger oder an die Politik richten, um diesen Prozess zu unterstützen. Leider wurde mit dem Zwischenruf ein anderer Weg gewählt, welcher der Arbeit zum Schutz des Kindeswohl nicht dienlich ist.
Offener Brief des Bundesverbandes der SJD - Die Falken und der SJD - Die Falken Landesverband Hessen an die Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e.V.