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23.07.2024

Wir werden euch nicht vergessen!

Unsere Rede zum Gedenken an die Opfer von Utøya, Oslo und München am 22. Juli

Gedenkstele in Berlin
Gedenkstele in Berlin

Am 22. Juli 2011 ermordete ein Rechtsextremist auf der norwegischen Insel Utøya 69 Menschen, weil sie für eine offene Gesellschaft und eine gerechte Welt kämpften – die meisten der Opfer waren junge Mitglieder der Jugendorganisation Arbeidernes Ungdomsfylking (AUF). Zuvor hatte der Täter im Osloer Regierungsviertel eine Autobombe gezündet und dabei acht weitere Menschen getötet.

Genau 5 Jahre später, am 22. Juli 2016, brachte ein rechtsradikaler Täter am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München neun Menschen ums Leben und verletzte fünf weitere durch Schüsse. Er beging seine Taten bewusst am fünften Jahrestag der Anschläge in Utøya.

Wie in den vergangenen Jahren haben wir auch dieses Jahr am 22. Juli als Falken und Jusos ein gemeinsames Gedenken veranstaltet, um an die Opfer von Utøya, Oslo und München zu erinnern.

Die Rede von Lolo und Theva könnt ihr hier nachlesen:

 

Liebe Genoss*innen, liebe Freund*innen,

wir sind heute hier, um zu gedenken, zu erinnern und um gegen das Vergessen anzukämpfen, das den Opfern des rechten Terrors in einer Gesellschaft widerfährt, die von den mörderischen Ideologien, die sie aus ihrer Mitte hervorbringt, viel zu oft nichts wissen will. Der 22. Juli ist aus unserem kollektiven Gedächtnis nicht wegzudenken. Dieser Tag führt uns vor Augen, wie tödlich und menschenverachtend die faschistische Ideologie ist, die wir als Jusos und Falken gemeinsam mit unseren Genoss*innen weltweit bekämpfen. Vor allem erinnern wir am 22. Juli an die 77 grausam ermordeten Menschen, von denen 69 unsere Genoss*innen unserer Schwesterorganisation, der AUF, waren.

Dass wir dies hier im Anton-Schmaus-Haus tun, ist kein Zufall. Auch unser Falkenheim, ein Haus eines Kinder- und Jugendverbandes, ein Haus der offenen Kinder- und Jugendarbeit, wurde in den letzten Jahren mehrfach von Nazis und Faschisten angegriffen. Doch wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir sind angetreten, um die Kontinuitäten des rechten Terrors zu durchbrechen. Dies tun wir gemeinsam als die Bundesverbände der sozialistischen Jugend Deutschlands – die Falken – und als die Jusos in der SPD. Der 22. Juli hat sich seit 2011 in unser Selbstverständnis als sozialistische Jugendverbände eingebrannt. Wir wussten von Anfang an: Wir müssen unserer Trauer und unserer Wut Raum geben, um an den herrschenden Zuständen nicht zu verzweifeln und in gemeinsamer Solidarität die Kraft zu schöpfen, die wir brauchen, um weiterzumachen. Denn wir vergessen keines der Opfer und setzen unseren Kampf für eine befreite Gesellschaft auch in ihrem Andenken fort.

Zu unserer Trauer und unserer Wut gehört aber auch die Erkenntnis der Kontinuität des rechten Terrors. Auch wenn wir heute hier zusammengekommen sind, um unseren ermordeten Genoss*innen zu gedenken, gedenken wir ebenfalls Armela, Sabrina, Sevda, Can, Selcuk, Janos, Hüseyin, Dimo und Giuliano-Josef, die vor acht Jahren, am 22. Juli 2016, von einem Attentäter im Münchener Olympia-Einkaufszentrum aus rassistischen Motiven ermordet wurden. Das Datum ist dabei kein Zufall: Der Täter von München verehrte den Täter von Utøya und wollte ihm nacheifern. Sieben der neun Todesopfer des OEZ-Anschlags waren Muslime, eines war ein Rom und eines ein Sinto. Auch diese schreckliche Tat zeigt uns, wie tief der rassistische Hass in unserer Gesellschaft verwurzelt ist.

Seit dem 22. Juli 2011 mussten wir noch viele weitere schreckliche Taten rechten Terrors erleben. Nicht nur München, sondern auch Christchurch, El Paso, Halle, Hanau und unzählige weitere rassistische Gewalttaten, von denen viele wahrscheinlich im Verborgenen stattgefunden haben. Deshalb wollen wir heute gedenken, erinnern und gegen das Vergessen ankämpfen – aber wir sind heute auch hier, um zu mahnen, um den Finger in die gesellschaftliche Wunde zu legen und um auf die gefährlichen Kontinuitäten des rechten Terrors hinzuweisen.

Diesen Taten zu gedenken, also kollektiv an sie zu erinnern, bedeutet für uns als Sozialist*innen nicht, in der Vergangenheit zu leben. Im Gegenteil. Wir wissen: Wenn wir nicht aus der Vergangenheit lernen, werden wir die Gegenwart niemals verstehen und eine andere Zukunft niemals schaffen können. Und dass sich an diese Taten erinnert wird, ist keine Selbstverständlichkeit. Wenn wir es nicht tun, wenn wir uns nicht immer wieder dafür einsetzen, dass die Erinnerung an die Opfer lebendig bleibt und das mörderische Ausmaß der rechten Ideologie immer wieder bekannt gemacht wird, dann werden die Menschen vergessen.

Als Bildungs- und Erziehungsverband ist es für uns genau das, was wir tun müssen: Lernen und Gedenken. Gemeinsame Bildungsarbeit ist für uns die Konsequenz aus den gesellschaftlichen Verhältnissen. Gemeinsames Lernen, Diskutieren und Verstehen ist Teil unserer verbandlichen Gedenkpraxis. Wir müssen verstehen, was die gesellschaftlichen Bedingungen sind, die rechten Terror hervorbringen, um effektiv etwas dagegen tun zu können. Wir müssen Kontinuität aufzeigen und unsere antifaschistische Praxis kontinuierlich reflektieren und weiterentwickeln. Deshalb haben wir als Falken und Jusos gemeinsam das Projekt „Gegen rechten Terror“ ins Leben gerufen. Wir haben Bildungsmaterial und eine Webseite erstellt, die wir in unserer Praxis nutzen, wir haben hier das Denkmal errichtet und wir haben beschlossen, jedes Jahr hier zusammenzukommen. Wir lernen und gedenken, gemeinsam.

Seit den 1960er Jahren hat der neue rechte Terror in Europa mehrere hundert Menschenleben gefordert. Die genauen Zahlen werden sich womöglich niemals ermitteln lassen. Die Täterinnen sind jedoch – allen Beteuerungen von Politiker*innen und Journalist*innen zum Trotz – alles andere als Einzeltäter*innen. Wenn sie nicht in Organisationen oder weit verzweigten Netzwerken agieren – so wie der Nationalsozialistische Untergrund in Deutschland – politisieren und radikalisieren sie sich über gemeinsame Medien und soziale Netzwerke. So war es auch beim Täter von Utøya und Oslo. Dass ein Zeltlager der AUF Ziel seines terroristischen Anschlags wurde, ist kein Zufall. Wie wir kämpfen unsere Genossinnen für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung, ohne Rassismus, Patriarchat und Ausgrenzung, kurz: Für eine Gesellschaft, in der jeder von uns ohne Angst verschieden sein kann.

Rechter Terror ist für uns als Sozialist*innen leider nicht neu, denn der Kampf für die befreite Gesellschaft und das Ende jeder Angst hat seit jeher den Hass der FaschistInnen auf sich gezogen. Wir selbst haben deshalb immer wieder Überfälle und Angriffe durch faschistische Gruppen und TäterInnen erfahren. Wir haben uns gemeinsam überall hier und auch international immer wieder gegen Neonazis aktiv zur Wehr gesetzt und oft genug mit Entsetzen die Schlagzeilen verfolgt, wenn FaschistInnen andere Menschen überfallen und ermordet haben, während Staat, Polizei und Justiz nur tatenlos zuschauten oder verharmlosten.

Es gibt unzählige Beispiele: Der bis heute unaufgeklärte Mord an Oury Jalloh, die ebenfalls bislang unaufgeklärten Verstrickungen des NSU in die deutschen Geheimdienste und die Polizei, ebenso die zahlreichen Erkenntnisse über weitreichende Netzwerke von Nazis innerhalb des Militärs und der deutschen Sicherheitsbehörden zeigen uns zudem zusätzlich, dass Antifaschismus nichts ist, was man anderen überlassen darf.

Wir wissen, dass die nationalsozialistische Ideologie nach 1945 weder aus der Gesellschaft noch aus den Staatsapparaten verschwunden ist. Wir wissen um die mörderische Realität von Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Misogynie und aller anderen menschenverachtenden Weltanschauungen. Sie zu verstehen und zu kritisieren ist ein elementarer Teil unserer Bildungsarbeit. Und wir setzen uns gegen sie zur Wehr. Gemeinsam und solidarisch.

Der 22. Juli ist für uns ein Tag der Trauer. Oft sind wir an diesem Tag selbst im Zeltlager. Wir gedenken den Freund*innen und Genoss*innen, die wir verloren haben, und allen anderen Opfern, die der neue rechte Terror gefordert hat. Wir sind in Gedanken bei ihren Freund*innen, bei ihren Angehörigen und bei den Überlebenden. Noch immer müssen wir uns die Zeit nehmen, das Geschehene zu verarbeiten. Dass jemand bereit sein kann, 77 Menschen im Sinne einer durch und durch barbarischen Weltanschauung zu ermorden, widersetzt sich unserem Versuch, die Tat begreifbar zu machen. Dass es immer wieder geschieht, bringt jeden von uns der Verzweiflung nahe.

Doch wir können bei unserer Trauer und dem erdrückenden Gefühl der Ohnmacht nicht stehen bleiben. Kamzy Gunaratnams Geschichte, als Überlebende des Anschlags von Utøya, ist ein leuchtendes Beispiel für Widerstand und Hoffnung in diesen Zeiten. Als Kind floh sie als tamilische Bürgerkriegsgeflüchtete nach Norwegen, wo sie in der sozialistischen Jugend und der tamilischen Freiheitsbewegung ihre politische Heimat fand. Trotz des traumatischen Erlebnisses des Terroranschlags gab sie nicht auf. Stattdessen widmete sie sich dem Aufbau einer gerechteren Gesellschaft. Heute, als Abgeordnete des norwegischen Parlaments, sagt sie selbst: “Alles, was ich politisch mache, geht auf das Versprechen zurück, das wir uns damals gegeben haben“. Für sie ist unsere Gesellschaft stärker als der Hass. „Wir haben uns das Versprechen gegeben: Nie wieder 22. Juli. Wir haben einander versprochen, niemals zuzulassen, dass sich ein solcher Hass wieder ausbreitet.” Im Wissen darum, dass wir die Welt nur verändern können, wenn wir solidarisch für eine Bessere kämpfen, stehen wir heute hier: Gegen Nazis, gegen Rassismus und Ausgrenzung, gegen Ausbeutung und die Gesellschaft, die all das hervorbringt.

Kein Vergeben. Kein Vergessen.

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